Neutralpunkt/Schwerpunkt/Stabilitätsmaß

Forum - Pilotenausbildung (SPL)
  • Vom Schwerpunkt eines Flugzeugs und zulässigen Schwerpunktbereichen hat jeder schon mal gehört. Aber Neutralpunkt? Und Stabilitätsmaß? Was ist das und wofür braucht man das? Als Nutzer braucht man es eigentlich gar nicht. Die Konstrukteure kümmern sich darum. Aber manches in diesem Zusammenhang ist auch für Piloten wissenswert, besonders im Zusammenhang mit weit hinten liegendem Schwerpunkt.

    Der Neutralpunkt ist ein mathematische Modell, mit dem sich in der Flugzeugtechnik manches elegant beschreiben lässt. Eine recht eingängige Beschreibung ist: der Neutralpunkt ist der Angriffspunkt der Änderung der Luftauftriebskräfte.
    Alles klar? Möglicherweise eher nicht. Also eine plausible Erklärung dazu:

    Es geht um die Längsbewegung bzw. die Bewegung um die Querachse (Nickachse). Im stationären Horizontalflug greifen alle Kräfte im Schwerpunkt an und alle Parameter sind konstant. Wenn jetzt eine Störung um die Nickachse auftritt (Turbulenz, Höhenrudereingabe), dann greift die dadurch verursachte Änderung der Kräfte am Neutralpunkt an, der immer hinter dem SP liegen muss. HR ziehen, zusätzlicher Abtrieb mit Angriffspunkt Neutralpunkt, Nickmoment schwanzlastig. Wenn die Störung weg ist, stellt sich der alte stationäre Zustand nach einer Weile von selbst wieder ein. Das nennt man Stabilität um die Nickachse oder Stabilität der Längsbewegung.

    Der Neutralpunkt ist ausschließlich von geometrischen Daten der Fläche und des Höhenruders und vom Abstand der beiden voneinander abhängig. Man kann ihn relativ leicht ausrechnen. Die zugehörige Mathematik ist überschaubar. Der Neutralpunkt ist  für eine bestimmte Flugzeugkonstruktion ein fester Punkt, größenordnungsmäßig so in der Gegend von ca. 40% Flächentiefe.

    Der Abstand zwischen dem aktuellen (veränderlichen) Schwerpunkt und dem fixen Neutralpunkt bestimmt das Stabilitätsmaß. Wenn man den Abstand relativ zur Bezugsflügeltiefe (in etwa die mittlere Flügeltiefe) ausdrückt, erhält man einen %-Wert.
    Ein Beispiel: Flügeltiefe 150 cm, Abstand SP-NP 15 cm, Stabilitätsmaß 10%.

    Das Stabilitätsmaß bestimmt den Charakter der Flugzeugbewegung in der Nickachse. Je größer das Stabilitätsmaß (weit vorne liegender SP) desto deutlicher strebt die Maschine nach der Störung wieder in die alte Fluglage zurück.

    Man kann gefahrlos ausprobieren, was das heißt. Einfach mal bei gut ausgetrimmter Maschine im stationären Horizontalflug mit dem Höhenruder eine kleine Störung drauf geben und dann das HR wieder in die Neutrallage lassen. Die Maschine sollte sich nach ein/zwei Schwingungen von selbst in der alten Fluglage beruhigen. Wie die Maschine sich genau verhält, hängt erkennbar von der Schwerpunktlage ab, die ja bekanntermaßen veränderlich ist.

    Bei großem Stabilitätsmaß (SP weit vorne) kommt es eventuell zu mehreren, vielleicht sogar nicht von selbst aufhörenden Schwingungen. Bei sehr kleinem Stabilitätsmaß (SP weit hinten) kommt der Vogel eventuell gar nicht in die alte Fluglage zurück, sondern bleibt so, wie es die Störung aufgeprägt hat, geht also z.B. nach unten weg und wird schneller. Bei Kunstflugzeugen strebt man diese Auslegung an, bei UL eher nicht.

    Sollte der SP auf dem NP liegen (Stabilitätsmaß Null), ist die Maschine nicht mehr steuerbar. Steuereingaben haben keine oder eine völlig undefinierte Wirkung auf die Nickbewegung. Und das erklärt auch, warum Schwerpunktlagen hinter dem zulässigen Bereich tödlich sein können.

    Gruß Techbär

  • Techbär schrieb:
    Sollte der SP auf dem NP liegen (Stabilitätsmaß Null), ist die Maschine nicht mehr steuerbar. Steuereingaben haben keine oder eine völlig undefinierte Wirkung auf die Nickbewegung.
    Hi Techbär,

    insgesamt ein sehr interessanter Beitrag, aber der zitierte Satz ist nicht ganz korrekt. Steuereingaben haben auch bei SP = NP eine definierte Wirkung auf die Nickbewegung, da die Steuereingaben am Höhenruder wirken (und nicht am NP) und damit auch eine Nickbewegung bewirken. Allerdings ist das Flugzeug bei NP = SP nicht mehr eigenstabil.

    Wenn der SP vor dem NP liegt und man z. B. am Knüppel zieht erzeugt das Höhenleitwerk mehr Abtrieb, daraus resultiert ein Drehmoment, daraus eine Drehbewegung wodurch sich der Anstellwinkel der Tragfläche erhöht. Dadurch erhöht sich der Auftrieb. Diese Auftriebskraft wirkt scheinbar auf dem NP, da dieser hinter dem SP liegt gibt es ein Drehmoment, welches dem Drehmoment durch das gezogene Höhenruder entgegenwirkt. Letztlich stellt sich ein erhöhter Anstellwinkel ein und die Lage bleibt stabil.

    Wenn der SP genau auf dem NP liegt, gibt es kein dem vom Höhenruder wirkenden Drehmoment entgegengesetztes Drehmoment und der Anstellwinkel erhöht sich (solange der Knüppel gezogen bleibt) weiter bis zum Strömungsabriss. Dieses Verhalten wird "indifferent" genannt. Nicht völlig unsteuerbar, aber letztlich hoch kritisch.

    Liegt der SP hingegen hinter dem NP wird jede kleine Störung verstärkt. Angenommen das Flugzeug fliegt im sauber Geradeausflug und es kommt eine kleine Störung (Windbö oder Steuereingabe) die zu einem leicht erhöhten Anstellwinkel führt. Das Drehmoment  welches nun der erhöhte Auftrieb des Flügels bewirkt, führt zu einer weiteren Erhöhung des Anstellwinkels und damit verstärkt der Effekt sich sehr schnell bis zum Strömungsabriss. Dieses Verhalten nennt man "instabil". Das ist durch einen Menschen nicht beherrschbar.

    Grüße
    Maik

  • Letzteres hatte ich bei einer Z602  mit 18Kg Zuladung im vordersten Teil des Gepäckraumes. Nur kleine Amplituden - aber man musste permanent die Querachse aussteuern. Habe ich nie wieder gemacht.  Die 18 Kg waren laut Handbuch zulässig....Claus

  • @Maik

    Deine Ausführungen sind an der Stelle klarer und plausibler, womit eine Schieflage in meinem Verständnis korrigiert wird.
    Danke dafür.

  • Gut erklärt, Techbär!
    Noch eine Ergänzung, um besser zu verstehen, warum man den Begriff "Neutralpunkt" überhaupt eingeführt hat, statt die Kräfteverhältnisse einfach über den Druckpunkt zu beschreiben.

    Bei gewölbten Profilen wandert der Druckpunkt (= vektorielle Summe aller Auftriebskräfte, analog dem Schwerpunkt, durch den man sich erspart, die Schwerkräfte jedes einzelnen Atoms zu betrachten) mit steigendem Anstellwinkel nach vorne. Das führt zur aerodynamischen Instabilität des Flügels: konstruiert man das Flugzeug so, dass der Schwerpunkt exakt im Druckpunkt liegt, sind die Kräfte im Gleichgewicht und der Anstellwinkel des Flügels ändert sich nicht. Wird der Anstellwinkel jetzt z.B. durch einen kurzen Höhenruderausschlag oder eine Böe von unten erhöht, dann erhöht sich der Auftrieb und der Druckpunkt wandert nach vorne. Da er jetzt vor dem Schwerpunkt liegt, entsteht ein Drehmoment, das den Flügel zu größerem Anstellwinkel hin nicken lässt. Das Spiel wiederholt sich und der Flügel nickt dadurch immer stärker (=instabiles Verhalten), bis der Anstellwinkel schließlich so groß ist, dass die Strömung abreißt.
    Um dieses Verhalten und die entsprechenden Gegenmaßnahmen (Dämpfung der Instabilität durch die Höhenflosse) mathematisch beschreiben zu können, müsste man einen wandernden Druckpunkt und variablen Auftrieb beschreiben. Das geht, ist aber umständlich. Da der Druckpunkt bei Anstellwinkelerhöhung nach vorne wandert und gleichzeitig der Auftrieb größer wird, heißt das, dass irgendwo vor dem Druckpunkt ein Punkt existiert, um den das Drehmonent Auftrieb*Abstand konstant bleibt, denn im gleichen Maß, wie der Abstand zu diesem Punkt sich verringert, erhöht sich der Auftrieb, so dass das Produkt konstant bleibt. Nicht exakt konstant, aber konstant genug, um das ganze realistisch beschreiben zu können. Zumindest im Bereich anliegender Strömung, aber darum geht es hier ja. Statt mit zwei veränderlichen Größen (Druckpunkt und Hebelarm) kann man also mit einer konstanten rechnen. Dieser Punkt ist der Neutralpunkt: ein mathematischer Trick, um die Welt einfacher beschreiben zu können, aber keine flugphysikalische Neuheit.
    Es gibt aber nicht nur den Neutralpunkt des Flügels an sich, sondern auch den Neutralpunkt des gesamten Flugzeugs, d.h. unter Berücksichtigung des Einflusses von Rumpf und insbesondere Höhenflosse. Dieser Neutralpunkt ist ausschlaggebend für das Stabilitätsmaß.

    Auch ein SP hinter NP führt nicht unbedingt zu einem unsteuerbaren Verhalten. Das Flugzeug wird dann nur jede Nickbewegung von sich aus verstärken, so dass der Pilot zusätzlich die Arbeit der Höhenflosse übernehmen muss. Er muss dann auf jede Störung schnell und gefühlvoll reagieren. Bei leicher Instabilität mag er das u.U. noch beherrschen, er wird nur ziemlich schnell einen Tennisarm kriegen. Ein ähnlicher Fall ist die Richtungsinstabilität bei Spornradflugzeugen, wenn sie am Boden rollen. Das ist auch beherrschbar, bei einigen aber schon grenzwertig.

  • @JaRa

    Super, danke!

    Da ist noch etwas, was ich bisher nicht so richtig verstehe:

    Der Neutralpunkt lässt sich ja aus rein geometrischen Daten des Flügels und des Höhenleitwerks und aus dem Abstand der beiden Flächen voneinander berechnen. Ich habe mir dafür eine passende EXCEL-Tabelle geschrieben, es für verschiedene Modellflugzeuge nachgerechnet und das Stabilitätsmaß danach ausgelegt. Die Ergebnisse waren praxistauglich.

    Die Druckpunktwanderung dürfte aber von Profileigenschaften abhängen, die ja in die Berechnung des Neutralpunktes gar nicht einfließen. Wiese kann man den Neutralpunkt profilunabhängig ermitteln, wenn die Druckpunktwanderung profilabhängig ist?

    Gruß Techbär

  • JaRa schrieb:
    dann erhöht sich der Auftrieb und der Druckpunkt wandert nach vorne.
    Zur "Auflockerung" wieder mal etwas aus der Praxis:

    Eine alte Dimona H36 hat es in den 80ern mal in turbulenter Luft über einem See zerlegt. Was kam dabei heraus:

    Die Belastungsrechnungen waren nicht auf diese Druckpunktwanderung ausgelegt. Ein plötzlicher Anstieg des Anstellwinkels bringt die Resultierende am Flügel nach vorne, wodurch der Flügel nicht nur nach oben, sondern eben auch nach vorne belastet wird. Dieses Moment war von den Konstrukteuren damals nicht ausreichend berücksichtigt worden. Klammheimlich wurde dann bei allen ausgelieferten Dimonas im hinteren Flügelbereich eine Stahlstange durch den Rumpf zu den sogenannten "Angstklammern" im Flügel geführt. Dadurch wurde eine Bewegung nach vorne verhindert.

  • Techbär schrieb:
    Da ist noch etwas, was ich bisher nicht so richtig verstehe:

    Doch, Du hast es richtig verstanden: die Druckpunktwanderung und damit das Verhalten des Flugzeugs bei Anstellwinkeländerung ist profilabhängig. Der Neutralpunkt beschreibt die Indifferenzlage und die ist unabhängig vom anstellwinkelabhängigen Nickmoment. Die Stabilitätsreserve bezieht sich auf die Stabilität eines bestimmten Flugzeugs bei Änderung seines Schwerpunkts; sie ist kein absolutes Maß, um das Verhalten zweier verschiedener Flugzeuge zu vergleichen. Zwei verschiedene Flugzeug mit gleicher Stabilitätsreserve, aber eins mit stark gewölbten (große Druckpunktwanderung) und eins mit symmetrischem Profil (druckpunktfest), werden eine unterschiedliche Längsstabilität haben.

  • Verstanden, danke!

  • Klasse Thread. Erstmal Danke dafür an alle Beteiligten.

    Ich habe zu den Ausführungen eine Frage:

    Meine Sting S4 fliegt nicht sehr eigenstabil. Das gilt sowohl für die Nickstabilität, wie auch die Stabilität um die Längsachse.

    Also lässt sich vermuten dass das Flugzeug ein geringes Stabilitätsmaß vorweist. Das würde bedeuten, wenn ich die Theorie richtig verstehe, dass ich vorsichtig mit Beladung des Gepäckraumes sein muss, weil nicht so viel Sicherheitsreserven gegen die Verschiebung des Schwepunktes nach hinten bestehen.

    Hab ich das richtig interpretiert?

    Gerd

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